Das Europa der Könige: Macht und Spiel an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts

Das Europa der Könige: Macht und Spiel an den Höfen
des 17. und 18. Jahrhundert

von Leonhard Horowski, Rowohlt, 2017, 1119 Seiten

06.08.2017


 
Was war das für ein verrücktes Europa - das Europa der Könige!

Hier treffen wir auf einen Prinzen, der erst im zarten Alter von 23 feststellt, dass er keinen Vornamen hat, lernen eine ganze Menge über Etikette in kriegerischen Auseinandersetzungen und dass Mätressen nicht nur die Gespielinnen des Königs, sondern auch die Sündenböcke für Legitimationskrisen waren und treffen schließlich auf so ungewöhnliche Berufsgruppen wie Siegelwachswärmer oder Toilettenstuhlträger.

Der englische Thron war nicht mit Engländern besetzt, man sprach durchgängig Französisch. Nationalität und Ideologie waren nicht wichtig; die eigene Dynastie bedeutete alles.

Es gab keine Sitten, keine Moral, keine Skrupel, keinen Konservatismus und vor allem gab es noch kein politisches Links oder Rechts - das entwickelte sich erst nach der Französischen Revolution.

Die Mitglieder der Königshäuser konnten sich frei hin und her bewegen, was jedoch keinen wirklichen Frieden brachte, denn wenn sich jeder mit jedem beliebig verbünden konnte, rief das Kriege hervor, an deren Ende eine Heirat zur Versöhnung stand, die dann wiederum für neue Konflikte sorgte. Im Endeffekt herrschte eigentlich immer Krieg, auch weil die Könige und die Aristokraten sich selbst als Ritter bezeichneten. Kämpfen war für sie der einzig wirklich legitime Beruf und eine Friedenszeit erschien ihnen praktisch wie eine Arbeitslosigkeit.

Dieses detaillierte und mit vielen Überraschungen und neuen Erkenntnissen aufwartende Buch umfasst eine Zeitspanne von 150 Jahren. Es beginnt 1642, in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg, und endet 1789 mit dem Beginn der Französischen Revolution.

Es handelt sich hierbei um die Frühneuzeit. Einerseits ist diese zurückliegende Epoche nicht so nah an uns dran, dass sie nicht genug Fremdheit hätte, aber sie ist andererseits auch nicht so weit weg, dass sie außerirdisch fremd ist - kommt doch tatsächlich langsam die Idee auf, dass man trotz aller Umstände aus Liebe heiraten könnte.

Das Europa der Könige erzählt von einer aristokratischen Gesellschaft, deren Antrieb dynastischer Ehrgeiz ist. Die Monarchen der frühen Neuzeit, die Europa beherrschten - wie gesagt, es ist die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg – hatten es in jedem Land scheinbar endgültig geschafft, eindeutig mehr Macht zu haben als der Adel, ausgenommen ist Polen. Der Adel - das sind nicht die Königshäuser - der Adel ist das, was unmittelbar nach dem Königshaus kommt – es sind die engsten Verbündeten und die härtesten Rivalen der Mächtigen.

Es gab einen halbwegs funktionalen Staat mit einer Armee, die nicht mehr nach dem Krieg verabschiedet wurde, und darüber hinaus gab es eine zwar rudimentäre, aber immerhin existierende Bürokratie. Somit war die Macht der Könige über den Adel eindeutig gewachsen und die Positionen klar definiert. Sie konnten aber noch immer nicht ohne ihn regieren, denn beide waren aufeinander angewiesen und das umso mehr, als diese Gesellschaft eine ganz klare Meinung zum sozialen Aufstieg hatte: die eigene Familie darf grundsätzlich aufsteigen und immer mächtiger werden, aber prinzipiell war man doch dagegen, denn alles war ja bereits qua Geburt geregelt und vorherbestimmt – somit war doch klar, wer welche Position einzunehmen hatte. Wir haben hier also ein Drama, welches die Personen zufällig durch ihre Geburt besetzt und das ist ja bekannter Weise nicht immer die beste Qualifikation.

An dieser Stelle macht es Sinn, die Idee zur Entstehung dieses Buches ein bisschen näher zu beleuchten. Im Laufe seiner Studien hatte der Autor Leonhard Horowski so viele interessante Begebenheiten und Kuriosa gesammelt, dass es ihm eine Herzensangelegenheit war, all diese Fakten in ein Buch zu packen. Diese Art von Literatur gab es bereits in Frankreich, in England und den USA – in Deutschland klaffte eine riesige Lücke, die zu schließen er antrat. Er wollte ein historisches Buch schreiben, das sich nicht ausschließlich an seine Kollegen richtete, sondern einem breiten Publikum zugänglich war, mit dem Ziel, anspruchsvolle Literatur zu lesen, ohne vom Fach sein zu müssen.

Einzig die Biographie kommt diesem Stil etwas entgegen, mit dem Nachteil, dass sie nicht die Welt abbildet, sondern nur über eine einzige Person berichtet. Das funktioniert gut, solange man nur genügend Fakten die entsprechende Person betreffend zur Verfügung hat – interessiert man sich aber für die Figuren aus der „zweiten Reihe“, die in ihrer Zeit nicht minder wichtig, meistens aber nicht so bekannt sind, stößt man an seine Grenzen, denn von vielen von ihnen wissen wir nicht genug, um ihr komplettes Leben zu erzählen.

Doch der Autor nahm sich die Freiheit und pickte sich die Rosinen raus. Er berichtete über die Ereignisse und Momentaufnahmen aus vielen unterschiedlichen Leben. Somit musste er nicht alles über diese Personen wissen, sondern konnte lediglich ein bestimmtes Ereignis als Ausgangspunkt für ein Kapitel benutzen.

Und so funktioniert das Buch denn auch: jedes der 20 chronologisch erzählten Kapitel hat eine Überschrift, die nicht sofort auf den Inhalt schließen lässt, ein präzises Datum und beginnt an einem Ort, der im Focus steht. Von hier aus verlagert sich dann das Geschehen. Man kann keine der Geschichten wirklich immer nur einem einzigen Land zuordnen, insgesamt sind es ungefähr 10-12 Länder – eben das Europa der Könige.

Jetzt hat der Leser zwei Möglichkeiten: entweder er liest jede Geschichte für sich und genießt die überraschenden und zum Teil zwar bekannten, aber dennoch nie vorher in diese Zusammenhänge gebrachten Fakten, oder er verfolgt bestimmte Figuren, die in den nachfolgenden Geschichten immer wieder erscheinen und durch die Szenerie spazieren.

Eine dieser schillernden Persönlichkeiten ist der 1638 geborene König Ludwig XIV. Dem absolutistischen Machthaber wird der Spruch „L’état c’est moi“ („Der Staat bin ich“) zugeschrieben. Allerdings äußerte er diesen Satz nie persönlich – man hatte erst sehr viel später seine Herrschaft, die erstaunliche 72 Jahre dauerte, so umschrieben.

Als Liebhaber und Förderer des Hofballetts tanzte er ausgesprochen gern in öffentlichen Aufführungen. Seiner Liebe zum Ballett verdankte er auch seinen Beinamen „der Sonnenkönig“, hatte er doch in jungen Jahren die Rolle der aufsteigenden Sonne getanzt.

Unter Ludwig XIV. wurde aus dem ehemaligen Jagdschloss Versailles ein prunkvolles Märchenschloss, das zum Zentrum Europas und einem Zeichen seiner Macht werde sollte und noch heute als Beispiel für den französischen Barock steht.

Es ist für uns heute kaum vorstellbar, aber zu dieser Zeit gab es keinerlei Privatsphäre. Der Palast war der Öffentlichkeit durch die Zahlung eines Bestechungsgeldes jederzeit zugänglich, denn das Leben des Königs war Teil der französischen Nation. Höhepunkte für das Publikum waren die königlichen Mahlzeiten – so lobten die Besucher die Eleganz, mit der sein Urenkel, Ludwig XV., ein Frühstücksei zu köpfen vermochte – und die Niederkünfte der Königin.

Ein ganz anderer Charakter, tatsächlich einer aus der „zweiten Reihe“, ist Friedrich Wilhelm von Grumbkow, der 1678 in Berlin zur Welt kam und ein sehr enger Vertrauter von König Friedrich Wilhelm I. war.

Auch seine Person zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Und darüber hinaus hat er noch eine Gemeinsamkeit mit dem Sonnengott: wir begegnen ihm das erste Mal als er sechs Jahre alt ist. Der Ort ist Berlin und wir schreiben das Jahr 1684. Wir wohnen dem ersten Hofballett in Brandenburg Preußen überhaupt bei. Das Kapitel heißt „Grumbkow tanzt“ und das tut er denn auch, gezwungenermaßen, da er als Kind eines Höflings dazu angehalten war.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Grumbkow einer der intrigantesten Höflinge seiner Zeit und schlichtweg ein Schlitzohr mit Nerven wie Stahlseilen war, denn er trieb ein doppeltes Spiel: einerseits schaffte er es, der Günstling des mehr als launisch geltenden Königs Friedrich Wilhelm I. zu werden – andererseits ließ er sich sehr viel Geld dafür bezahlen, dass er systematisch die Pläne seines eigenen, ihm sehr zugewandten Königs durchkreuzte, indem er sie an die Konkurrenz verriet.

Eine seiner größten Begabungen neben der Diplomatie war die Fähigkeit, seinen Kopf, Zeit seines Lebens rechtzeitig aus jeder ihm sich bietenden Schlinge zu ziehen, bis er im Jahre 1739 in seinem wunderschönen Haus, dem so genannten Grumbkowpalais, mit Blick auf das Berliner Stadtschloss, starb.

Leonhard Horowski hat ein Buch geschrieben, welches dem Leser die Wahl lässt: entweder liest man es zur puren Unterhaltung – wie man auch einen Roman lesen würde, bei dem man was lernen kann aber nicht muss - oder aber man interessiert sich genau für diese Epoche – die Menschen und Ereignisse der frühen Neuzeit - eine historische Epoche, die in der öffentlichen Wahrnehmung unterbeleuchtet ist.

Aber dieses Buch ist eine Herausforderung – mit über 1000 Seiten und mehr als 1,2 Kilo Gewicht gehört es im wahrsten Sinne des Wortes zu den „Schwergewichten“ der Literatur und es braucht Courage, Zeit und Geduld, um es in Ruhe zu lesen und die gewonnenen Erkenntnisse zu verarbeiten, aber es lohnt sich. Hat man sich erst ein Herz gefasst, versinkt man im Europa der absurdesten Begebenheiten und Kuriosa jedweder Art.

Und wer die Gelegenheit hatte, Leonhard Horowski bei einer seiner Lesungen zu begleiten, erlebt ein Feuerwerk an Eloquenz und geballtem Wissen und spätestens, wenn er anfängt aus dem historischen Nähkästchen zu plaudern, weiß man, warum es sich lohnt, diese Herausforderung anzunehmen.

Das Buch ist farblich sehr schön gestaltet und verfügt über vier, gleichmäßig über die mehr als 1000 Seiten verteilte Blöcke farbiger Portraits der Protagonisten, die jeweils von einem kurzen Text begleitet sind. Die 20 Kapitel werden von einem Vorwort und einem Epilog eingerahmt. Dazu kommt ein umfangreicher Anhang, der die Feudal- und Amtstitel der wichtigsten weiblichen und männlichen Hofämter beschreibt sowie nach Kapiteln unterteilte Nachweise der Quellen und Literatur, gefolgt von einem Namensregister.

Wer die familiären Verbindungen der königlichen Familien samt Lebensdaten jedes einzelnen Mitglieds nachvollziehen möchte, findet in den Innenseiten zwei Stammtafeln.

Fazit: In diesem liebevoll und unfassbar detailliert recherchierten Buch erfährt man durch die Beschäftigung mit den Monarchien der frühen Neuzeit viel über die Geschichte der Diplomatie, des Krieges, der Staatsbildung, aber auch der Familienstrukturen und der Geschlechterbeziehungen und man lernt, wie dynastisches Networking funktioniert.

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Der 1972 geborene und in Berlin lebende Fachhistoriker Leonard Horowski studierte Geschichte, Anglistik und Politologie an der Freien Universität Berlin und der University of Durham. Er promovierte zum „Hof von Versailles“ und schließt momentan eine Habilitation über brandenburg-preußische Staatsminister ab.

Neben der universitären Lehrtätigkeit arbeitete er in der Diplomatenfortbildung sowie als Experte und historischer Berater für Radio, Film und Fernsehen, z.B. für die Dokumentarserie „Mätressen“. Die geheime Macht der Frauen (2005) und „Die Deutschen“ (2010).

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/Ella Freudenreich
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